Claus Christian Schroeder oder Unterrichten aus Leidenschaft
Er liest wieder - zur Freude seiner Zuhörer, die seit Jahren, manchmal Jahrzehnten, süchtig seinen Ausführungen folgen. Die Rede ist von Claus Christian Schroeder, ehemals Dozent der Münchner Ludwig-Maximilian-Universität. Verabschiedet wurde er offiziell am Ende des Sommersemesters 2002. Doch wie kann jemand wie er, aufgeladen mit all dem Wissen und den spannenden Gedankengängen, pensioniert im Sessel sitzen und Rosen züchten?
Nach einem Semester "Entzug" erfrischt sein ruheloser Geist wieder die Fans jeden Alters im Hörsaal 132 der Ludwigs Maximilians Universität im Rahmen des Seniorenstudiums.
"Es ist dabei geblieben, dass ich bis heute quer durch den Gemüsegarten und ohne jede Rücksicht auf Fakultätsgrenzen alles Mögliche unterrichte."
Schroeders Veranstaltungen warten mit einer spannenden Vielfalt auf, die ihresgleichen sucht; seine Vorlesungen berühren Gebiete aus Physik, Mathematik, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Biologie, Mythologie etc. und machen klar, wie gefährlich es für jede Gesellschaft ist, wenn sie sich ausschließlich auf ein Wahrnehmungsmodell verlässt.
Wie lautet doch ein gern zitierter Lieblingssatz von ihm, der von dem französischen Surrealisten Francis Piccabia stammt?
"Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.." Oder mit anderen, bisweilen hessisch eingefärbten Worten Schroeders:
"Mir isses einzig allein darum getan, dass derjenige, der meine Vorlesungen besucht, anners rauskommt, als er reingeht."
Dieses Ziel erreicht er mitunter sogar bei vermeintlichen Spezialisten ihres Fachs, wenn sie sich denn herablassen, den Ausführungen eines "einfachen" wissenschaftlichen Angestellten zu folgen.
"Da bahnt man sich über Jahre mühsam seine Trampelpfade durch das geistige Dickicht, glaubt voller Stolz etwas erreicht zu haben, und dann kommt dieser Schroeder mit so einer Art Presslufthammer und wühlt alles wieder auf," jammerte vor Jahren einmal ein betagter Mediziner. Auf die Nachfrage, ob das sehr schlimm für ihn sei, entgegnete er wider Erwarten:"Aber nein, das ist doch das Beste, was uns auf unsere alten Tage noch passieren kann."
Elegant weiß Schroeder Fachkenntnis mit interdisziplinären Bögen zu verbinden und zitiert bei Bedarf auch Auszüge aus Belletristik und Poesie. Anschaulich, prägnant, umfassend, präzise, markant, pointiert, bisweilen bissig-provokativ, leidenschaftlich, humorvoll, unterhaltsam ließe sich der ihm eigene konkurrenzlose Vorlesungsstil charakterisieren. Seine rhetorisch-stilistische Brillanz lässt zudem eine geistige Haltung durchschimmern, die nie die Bodenhaftung verliert. Im Unterschied zu den meisten Universitätsdozenten merkt man ihm einfach an, dass er auch außerhalb des Elfenbeinturms der akademischen Wissenschaften gearbeitet hat. So jemand begeistert und macht neugierig, lässt doch der faszinierende Vortrags-und Denkstil auf einen eher unkonventionellen Lebensweg schließen. Diese Vermutung wollte ich denn doch bestätigt wissen und bei einer Tasse Tee bot sich die Gelegenheit., das "Phänomen Schroeder", geboren 1938 in Berlin, näher zu beleuchten.
"Ich tue mit Ausdauer, Konzentration und voller Energie immer nur das, was mich gerade fasziniert."
Dass er ausgerechnet in Psychologie seinen Abschluss machte, war Zufall;
in Frankfurt am Main besuchte er Anfang der sechziger Jahre zunächst Vorlesungen in Physik und Mathematik und landete aus Versehen bei den Psychologen. Der falsche Hörsaal wartete jedoch mit dem richtigen Thema auf: optische Täuschungen. Diese hatten ihn schon länger fasziniert und bewogen ihn dazu, Wahrnehmungspsychologie zu einem seiner vielen Schwerpunktthemen zu machen. Hört man ihn dozieren, wundert man sich, weshalb er keinen Professorentitel trägt.
"Um Gottes willen! Ich war nicht mal bereit, eine Doktorarbeit zu schreiben. Das hätte ein über zweijähriges Verharren auf einem Thema bedeutet, unter einer Betrachtungsweise, die der Doktorvater maßgeblich mitbestimmt hätte...und und und. Alles Dinge, die ich so nicht wollte."
Aha, interessant. Und was wollte er?
"Mit 20 Jahren wusste ich, dass ich unterrichten wollte. In diesem Alter hatte ich mehrere intensive Träume, in denen mir als Archetyp die Figur des Lehrers erschien. Diese Träume bestärkten mich darin, Lehrer für Erwachsene zu werden. Das Fach war eher nebensächlich, wollte ich doch möglichst viele Wissensgebiete transdisziplinär verknüpfen. Mir war damals auch klar, dass ich keinen Besitz anhäufen wollte und auch nicht gewillt sein würde zu heiraten. Kinder hätte ich sehr gerne gehabt, aber da die damalige Rechtsprechung die Kinder damals ausschließlich den Müttern zuerkannte, war dieses Vorhaben ohne Heirat unmöglich. Man kann halt nicht alles haben im Leben."
Das war wohlgemerkt 1958, als sich fast alle Deutschen der Wirtschaftswunder- und Familiengründungsideologie verschrieben hatten!
"Die lebensfrohe Großzügigkeit meiner Großmutter war das größte Geschenk in meinen Kindheitsjahren"
Mit erstaunlicher Konsequenz hat er die Überzeugungen des einst Zwanzigjährigen verwirklicht. Gab es positive Vorbilder in der eigenen Familie, die ihn von Anfang an darin bestärkten, sich selbst treu zu sein und sich von nichts und niemandem verbiegen zu lassen?
"Die wesentlichen Personen in meiner Kindheit und Jugend waren die Eltern meiner Mutter, die im thüringischen Jena lebten, wo ich meine ersten 9 Jahre verbracht habe. Von meinem Großvater, der Weingroßhändler war, habe ich - und zwar ganz freiwillig - etliche ziemlich preußische Sekundärtugenden gelernt, die mir bei meiner sonst ziemlich chaotischen Lebensführung überhaus hilfreich waren: vor allem unbedingte Verlässlichkeit, ein Minimum an Ordnung, nie müde werdende Neugier und die Fähigkeit, warten zu können. Meine Großmutter, Tochter eines thüringischen Zimmermanns, besaß die erstaunliche Fähigkeit, freigiebig sich selbst zu verschenken, aber ohne sich zu "opfern" oder andere zu einer Gegenleistung zu verpflichten. Ich konnte regelrecht zusehen, wie sie beim Älterwerden immer "reicher" wurde. Diese lebensfrohe Großzügigkeit, die mich immer völlig frei beließ, war sicherlich das wichtigste Geschenk, das ich in meinen jungen Jahren empfangen habe. Ich habe mich stets darum bemüht, es ihr nachzutun."
1947 floh er mit seiner Familie aus der sowjetischen Besatzungszone nach Frankfurt am Main. Sein Vater war Hotelier und diese Tätigkeit brachte es mit sich, dass der kleine Claus schon früh Schein von Sein zu unterscheiden lernte.
"Da wir auch in diesen Hotels wohnten und Kinder nun mal sehr neugierig sind, merkte ich bald, dass die Koryphäen der Gesellschaft an diesem Ort genau das trieben, was sie moralisch in der Öffentlichkeit am heftigsten verurteilten. Insofern bin ich Gott sei Dank von einer bürgerlich-religiösen Erziehung und deren Folgen verschont geblieben. Mit Autoritäten, zu denen mein Vater auch nicht zählte, habe ich nie etwas anfangen können. Bis heute ist mir nicht klar, was "Autoritätsprobleme" sind und ich bin immer ziemlich ratlos, wenn Studenten solche ausgerechnet mit mir kriegen."
"Die Universität war für mich immer ein riesiger Selbstbedienungsladen, in dem sich Studenten hemmungslos geistig bereichern sollten"
In Bad Homburg machte Claus Schroeder das Abitur und arbeitete in verschiedenen Bereichen als Arbeiter, Praktikant in der Industrie und neun Jahre als Manager eines Frankfurter Hotels,während er an der Universität Frankfurt mit selbst verdientem Geld seiner Studienleidenschaft frönte.
"Mir ist und war es unbegreiflich, wenn ein Student mit dem Vorhaben auf mich zukommt, in möglichst kurzer Zeit ein karriereorientiertes Schmalspurstudium hinzulegen. Ich habe die Universität immer als riesigen Selbstbedienungsladen gesehen, in dem ich mich hemmungslos geistig bereichern durfte. Ich studierte anfangs Mathematik und Physik, später Sinologie, Russisch, Byzantinistik, Philosophie bei Wolfgang Cramer und Soziologie bei Horkheimer und Adorno. In der Psychologie hörte ich Edwin Rausch und Alexander Mitscherlich."
Zwischen 1968 und 72 war er Wissenschaftlicher Assistent am Institut der Psychologie der Münchner LMU. Den zunächst auf immer ein Jahr befristeten Vertrag wandelte er mit gezielter Schläue - aber völlig legal - in einen unbefristeten um.
" Nach § 625 des Bürgerlichen Gesetzbuches, der bis heute gilt, geht ein befristetes Dienstverhätlnis automatisch in ein unbefristetes über, wenn man seine Dienste weiter anbietet und der Arbeitgeber nicht `unverzüglich´widerspricht. Nun hatte einer meiner Studenten ausgerechnet, dass ein Schreiben auf dem Diestwege durch die Uni-Bürokratie etwa 11 Meter pro Tag zurücklegt.
Tatsächlich dauerte es drei Wochen, bis der eigeschriebene Brief, in dem ich die Verwaltung fristgerecht über die Fortführung meiner Tätigkeit informierte, bei der zuständigen Stelle angelangt war. Der Widerspruch erfolgte dann zwar, aber der Chef der Rechtsabteilung musste einräumen, dass die Frist dazu längst überschritten und mein Arbeitsverhältnis folglich `auf unbestimmte Dauer verlängert war´.Der einzige, der wütend war und wie ein Kind trotzig aufstampfte, war der Ordinarius. Der musste jetzt halt auf sein alljährlich abgehaltenes Machtritual verzichten, mir auf seinen Antrag hin gnadenweise das Arbeitsverhältnis zu verlängern. Aber das nahm ich gelassen zur Kenntnis. Wie sagt Dante so schön? `Marcia suo corso e lascia dir gli genti´. (Geh deinen Weg und lass die Leute quatschen)."
"Philosophie ist etwas, worin es um Leben und Tod geht"
Sich ohne schlechtes Gewissen nehmen, was man braucht. Machtverhältnisse klug für sich nutzen anstatt chancenlos dagegen anzurennen. Die Überzeugung, das zu tun, was man wirklich will, wurde auch gestärkt durch die Philosophie von den griechischen Sophisten und dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre.
"Ich hatte schon auf dem Gymnasium etwas über Philosophie vernommen, Albert Camus vor allem, Bertrand Russell, ein bisschen Kant und Marx.
Aber erst in Frankfurt an der Universität wurde mir klar, dass Philosophie keine geistigen Arabesken sind, sondern Antworten bietet auf fundamentale Fragen. Ich besuchte die Vorlesungen von Wolfgang Cramer, der vorne auf seinem Podium jede Woche in eine ungeheuer erregte physische Turbulenz geriet. Ich habe damals praktisch kein Wort verstanden, aber eines mit Sicherheit und für immer: dass Philosophie etwas ist, bei dem es um Leben und Tod geht. Und deshalb habe ich mich auch in die Philosophie vertieft. Sartre, die griechischen Sophisten und der chinesische Taoist Yang Zhu haben mir gleichsam mein eigenes Bewusstsein erklärt und am besten auf den Begriff bringen können, was ich damals selber bereits bezüglich Leben und Tod gefühlt oder gedacht habe. Maßgeblich beeinflusst haben mich hingegen die chinesische Philosophie, auch Leibniz, ferner die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, infolgedessen auch Marx und Freud; wichtig ist auch die hochphilosophische Quantenphilosophie für mich: Welche Paradoxen über die Natur verrät und verschweigt sie uns gleichzeitig?"
Über die Jahre erweiterte Claus Schroeder kontinuierlich sein Vortrags-und Vorlesungsspektrum. Außer an der LMU unterrichtete er unter anderem an der ehemaligen Heeresoffiziersschule in München, an der Bayerischen Polizeiakademie, an der Akademie der Bildenden Künste, an der Hochschule für Fernsehen und Film sowie an August Everdings Theaterakademie in München. Dozent zu sein heißt für Claus Schroeder auch immer, zu aktuellen politischen Situationen eine klare Analyse bereit zu halten und Stellung zu beziehen.
"Ich bin an der Hochschule offenbar einer der wenigen, der das Lehramt auch für eine politische Verpflichtung hält. Wenn Kollegen erklären, sie hätten als Psychologen zu Themen wie Krieg, Frieden oder Terror nichts zu sagen, regt mich das auf. Mir liegt ganz wesentlich daran, dass die Studierenden eine Möglichkeit erhalten, über solche Dinge kompetent und in durchaus wissenschaftlicher Absicht zu reden und zu diskutieren. Denn wo sonst, wenn nicht an der Universität, wäre der Ort dafür?"
Sein Blick auf die heutige gesellschaftspolitische Situation sieht eher skeptisch aus. Die sowieso schwierige Lage muss von einer Generation gemeistert werden, die dank Computer mehr von Wirklichkeitssimulation denn von harter Wirklichkeit geprägt wurde.
"Wenn ich mir die heutigen jungen Leute ansehe, kommen mir gewaltige Zweifel, ob diese "Generation Golf" in der Lage sein wird, mit den zunehmenden Härten unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation zurechtzukommen. Auch unsere heutige Politikerriege - egal ob jünger oder älter, links oder rechts - ist völlig überfordert, mit der gegenwärtigen Krise konstruktiv umzugehen! Was nun die junge Generation angeht: Als Computerfreaks fühlen sich manche als "Master of the Universe", der Illusion verfallen, sie könnten die Wirklichkeit auf Knopfdruck unverzüglich ändern. Doch wie sieht die Realität aus? Sie wohnen noch zu Hause im Hotel Mami, leisten sich teure Designerklamotten und glauben, mit ihrem teilweise miserablen Deutsch den universitären Anforderungen gewachsen zu sein. Aber vielleicht werden manche den Realitätsschock spätestens nach dem Studium überwinden und beginnen, umzudenken und neue Handlungsmuster zu erproben."
Auf die Frage, welche "Pläne" er in den nächsten Jahren verwirklichen möchte, kommt wieder eine völlig undeutsche Antwort.
"Ich habe noch nie in meinem Leben `wichtige Vorhaben´ verwirklicht. Dazu bin ich wahrscheinlich zu chinesisch. Ich tue mit Ausdauer, Konzentration und voller Energie immer nur das, was mich gerade fasziniert und ausfüllt. Ideen habe ich viele, aber Pläne mache ich nicht. Wenn´s die Götter wollen und es mich `erwischt´ wird es vielleicht geschehen, dass ich mich hinsetze und die vielen Tonbandaufzeichnungen meiner Vorlesungen als CD digitalisiere."
N a c h t r a g: Die Götter wollten es tatsächlich. Claus Christian Schroeder hat innerhalb kurzer Zeit viele seiner Vorlesungen digitalisiert und bietet sie Interessierten auf
seiner Internetseite zum Verkauf und geistigen Vergnügen gleichermaßen an.
Bleibt trotzdem zu hoffen, dass ihn noch eines lange reizen wird: Vorlesungen halten! Denn Claus Christian Schroeder live zu erleben, ist halt doch am schönsten.
Für Münchner Interessenten jeden Alters: Dienstags während der Vorlesungszeit erteilt Claus Schroeder seine geistigen Injektionen im Hörsaal 132 an der LMU, Zugang Amalienstraße, von 17.15 bis 18.45 .