Wer war Sokrates?
oder
"Was ist Qualität?"
Fortsetzung der Schröderschen Vorlesungsreihe
Qualität und Quantität
Der berühmte Satz von Sokrates "Ich weiß, dass ich nichts weiß" bezieht sich selbstverständlich nicht auf Quantitatives. Die alten Griechen hatten überhaupt keine Schwierigkeiten damit, Quantität präzise zu definieren. Griechische Forscher legten den Grundstock zu unseren Naturwissenschaften, sie wiesen nach, dass die Erde rund ist und leisteten Erstaunliches in der Mathematik und Medizin. Sie waren sich aber auch bewusst, dass das Leben sich um mehr dreht als Schnelligkeit, Effizienz und Geld verdienen... Und dass es im Leben einer Qualität bedarf, die das Leben erst lebenswert macht. Jeder empfindet wahrscheinlich Mozarts Musik als schön - was aber macht sie denn im Grunde so schön? Ähnliche Notenabfolgen finden sich schließlich bei vielen Kompositionen der U-und E-Musik.
Der historische und literarische Sokrates
Bei der Beantwortung der Frage, wer Sokrates wirklich war, muss die Forschung sokratisch feststellen: wir wissen, dass wir es nicht wissen!
Als Faktum ist überliefert, dass es einen Mann namens Sokrates gab, der 399 vor Christus in Athen von den Athenern zum Tode verurteilt wurde. Ausführlicher erscheint er als literarische Figur in den Schriften dreier Schriftsteller:
a) beim Komödiendichter Aristophanes,
b) in den Berichten des Generals Xenophons und
c) bei Platon, Sokrates berühmtesten Schüler.
Aufgrund dieser spärlichen Tatsachen behaupten manche, dass Sokrates lediglich eine literarische Figur sei. Andere Theorien wiederum neigen zur These, dass die frühen Schriften Platons den historischen Sokrates weitgehend beschreiben.
Aus dieser dürftigen Ausgangslage entwickelt Claus Schroeder seine eigenen, wie immer spannenden Thesen und Beobachtungen.
Auch wenn die historische Figur unzureichend bezeugt ist - Tatsache ist, dass mit Sokrates in der Philosophie eine völlig neue Fragestellung begonnen hat. Beschäftigten sich die Vorsokratiker mit der materiellen Zusammensetzung der Welt, also mit Naturphilosophie (Physik), wirft Sokrates erstmals metaphysische Fragestellungen auf. Daher verdanken Ästhetik und Ethik ihr Vorhandensein diesen sokratischen Fragestellungen:
Was ist das richtige Leben? Was ist das Wesen des Guten und Schönen?
Wie kann ich Richtlinien mit meiner Vernunft entwickeln, die mir dabei helfen, das Gute und Wahre herauszufinden?
Das klingt zunächst einfach - und erweist sich bei genauerer Betrachtung als sakrisch schwer!
Rätselhafter Sokrates
Sokrates entstammte einer einfachen Familie. Sein Vater war angeblich Bildhauer, seine Mutter Hebamme. Er war kurz gewachsen, von gedrungener Gestalt. Auch das Gesicht war alles andere als schön zu nennen. Wer erinnert sich nicht an die marmornen Porträts von Sokrates mit gequetschter Nase und Neandertalstirn? Äußerlichkeiten schienen ihm vollkommen egal zu sein. Er ging stets barfuß und trug einfache Gewänder. Und doch muss er bis zu seinem Tod mit circa 73 Jahren eine unglaubliche erotische Ausstrahlung besessen haben, der viele Männer und Frauen regelrecht verfielen! Ich finde diesen Umstand höchst erwähnenswert. Gerade in unserer Zeit, die den Zeitgenossen mitzuteilen versucht, ohne trainierten Hintern, silikongestärkten Busen, fettlosen Waschbrettbauch, teure Markenkleidung etc. von der Bildfläche verschwinden zu müssen!
Sokrates lernte den Beruf eines Steinmetzen, heiratete die berühmt gewordene Xanthippe und hatte mit ihr drei Söhne. Irgendwann ging er, der nie Schüler eines berühmten Denkers gewesen war, dann nur noch seiner Lieblingsbeschäftigung nach - irgendwo im Zentrum Athens Athener anzuquatschen und mit ihnen über Gott und die Welt zu reden. "Satyr", "Erhabenheitsschwätzer", "Priester des erhabenen Wortes" und "Zauberfürst der Hellenen", so lauteten seine Beinamen. Seine Selbstdefinition lautete nach seiner überlieferten Verteidigungsrede vor dem Athener Gericht "Stechmücke Athens". Er versuchte - wenn auch vergeblich - die Athener davon zu überzeugen, wie wichtig es ist, sich immer wieder in Frage stellen zu lassen. Und darin war er Meister. Sokrates brachte durch seine naiven, scheinbar zustimmenden, gleichzeitig bohrenden Nachfragen seine Diskussionspartner - ausgewiesene Fachleute - heftig ins Schwitzen. Nach jeder sokratischen Frageschwitzkur mussten sie selbstehrlich zugeben, über ihr eigentliches Fachgebiet eigentlich nichts zu wissen und ihre Entscheidungen aus ungeprüftem Glauben heraus zu treffen. Manche reagierten auf seine Bloßstellungen aggressiv, fühlten sich in ihrem Ego mächtig angekratzt. Aber viele Athener schienen ihn zu bewundern und zu mögen. Im Unterschied zu den meisten Sophisten nahm Sokrates zwar kein Geld für seine Unterweisungen, er ließ sich aber ohne Minderwertigkeitskomplexe von reichen Mitbürgern einladen. Seinem Beruf ging er dann irgendwann nicht mehr nach und widmete sich nur noch seiner rhetorisch-philosophischen Leidenschaft.
Wie andere Athener auch leistete er Kriegsdienst und fiel in den Schlachten durch große Tapferkeit auf. Als Athen zwischenzeitlich von Tyrannen regiert wurde, nahm er kein Blatt vor den Mund. Grausame Ironie der Geschichte: Während der Tyrannenherrschaft überlebte Sokrates und die kurz darauf wiedereingeführte Demokratie verurteilte ihn zum Tode. Er hätte fliehen können, lehnte es jedoch ab und nahm in größter Ruhe seinen Henkerstrunk, den giftigen Schierlingsbecher, ein. Er selbst hinterließ keine Schriften. Sein Leben selbst demonstrierte höchst eindrucksvoll seine Überzeugung, das Gute, die "arete" durch entsprechendes Handeln in die Welt zu setzen. Seine Furchtlosigkeit dem Tod gegenüber verlanlasste einen späteren Denker zu sagen "Sokrates ist das, was wir immer noch nicht sind."
Platon und Sokrates oder vom Trauma zum totalitären Traum
Platon war ein junger, sehr attraktiver Mann Anfang 20, aus der Hocharistokratie Athens, als er Sokrates kennenlernte und ihm regelrecht verfiel. Die erotische Bindung Platons an Sokrates ist unter anderem im "Symposion" ersichtlich. Die folgenreiche Begegnung Platons mit dem 70jährigen bewog ihn dazu, von literarischen und politischen Ambitionen Abstand zu nehmen und sein weiteres Leben der Philosophie zu widmen. Wie schon im ersten Teil der Vorlesung erwähnt, legt Platon dem verehrten Lehrer Dinge in den Mund, die jener so nie gesagt haben kann. Platon litt da sicher nicht an Gedächtnisschwund. Die Manipulation hatte ihre Gründe. Welche wohl???
Wie kam Platon dazu, den Sophisten Sokrates zu einem Lehrer umzustilisieren, der einen totalitären Staat propagiert ?
Schroeder nennt folgende psychologische Gründe:
Als Tatsache kann gelten, dass Platon sich seinem Lehrer zutiefst verbunden fühlte. Bezeugt ist ebenfalls, dass Platon in den letzten Tagen vor und während Sokrates Tod nicht zugegen war. Einfach weil er es nicht ausgehalten hätte, seinen geliebten Lehrer einen ungerechten Tod sterben zu sehen. Das demokratisch gefällte Todesurteil sollte für Platon zum Anlass werden, die Demokratie als Staatsform rundweg abzulehnen.
Der Tod von Sokrates war laut Schroeder d a s Trauma schlechthin, das Platon nicht verwinden sollte. Das ihn dazu anspornte, eine der geschlossensten, perfektesten, faszinierendsten aber auch verhängnisvollsten Philosophien zu entwickeln.
Eine psychisch-geistige Gegenreaktion also, die Platon half, das Unfassbare seelisch zu überleben: Ihr elenden Demokraten habt mir meinen Sokrates genommen, das darf nicht wieder vorkommen. In meinem perfekten Staat, geführt von wenigen weisen Philosophen, wird es keine Fehler und keinen Schmerz mehr geben. Eine Demokratie, die ein solches Urteil fällt, ist es nicht wert, weiterhin zu existieren.
Platon oder die utopische Sehnsucht nach der Vollkommenheit
Dass die platonischen Ideen seit Jahrtausenden bis heute mehr oder weniger in anderen Gewändern verkleidet eine solche Durchschlagskraft besitzen, bezeugt ihre nach wie vor hohe Aktualität. Worin begründet sich diese?
Seit Anbeginn seiner Existenz sieht sich der Mensch zwei gegensätzlichen Tendenzen ausgesetzt, zwischen denen er sein geistig-seelischen Spagat mehr oder weniger vollbringen muss. Es ist der ewig menschliche Konflikt zwischen seiner schmerzhaft empfundenen Unvollkommenheit und seiner Sehnsucht nach dem perfekten Paradies. Egal, wie weit die Medizin ist, er muss eines Tages sterben. Jede noch so vermeintlich sichere Existenz kann erschüttert werden durch Krankheit, Krieg, Verluste jeglicher Art und Tod. Dieser widerwilligen Erfahrung in die eigene Unvollkommenheit steht in jedem von uns ein ungeheurer Drang nach Geborgenheit, Sicherheit und "plazentaler Endversorgung" (Schroeder) entgegen. Jede rechts oder linkes gelagerte Ideologie benennt diesen Ort der paradiesischen Ruhe unterschiedlich. Für die Christen ist es natürlich der jenseitige Himmel, für die Kommunisten die kommunistische Gesellschaft, für die Buddhisten das Nirwana usw.
Der Verweis auf eine goldene Zukunft ist immer aber auch gebunden an die Erinnerung an ein schon gewesenes Paradies. Erst diese Erinnerung bringt den Menschen auf die Idee, einen paradiesischen Zustand wie auch immer wieder herstellen zu wollen.
Platon proijeziert die Erinnerung an das Goldene Zeitalter, in dem die Götter persönlich regierten und für eine ideale selbstverständliche Ordnung sorgten, auf seinen idealen Staat. In seinen Analysen, woraus das Böse eigentlich bestehe, entwickelt Platon in seinen drei politischen Schriften Politeia, Politikos und Über die Gesetze als Erster profunde Theorien über Soziologie und Geschichte.
Schroeder legt Platons Gedankengang dar, dass "das Übel" aus einer fortlaufenden politischen und rassischen Degeneration der Menschen besteht. Eine vollkommene göttliche Ordnung geht von der Monarchie über die Oligarchie, Demokratie und Tyrannei letztendlich in eine Anarchie über. Der Kampf um materielle Eigeninteressen führt zu diesem Verfall, dem nur durch die philosophische Macht der Vernunft beizukommen sei, die mit Hilfe von Philosophenkönigen den idealen platonischen Staat aufbaut. Dieser sei dann jeder revolutionären Veränderung gegenüber immun. Platon spricht wortwörtlich von einem "1000jährigen Reich"! Um dieses immun gegen jede Art von Veränderung zu machen, entwirft Platon ein perfekt ausgearbeitetes Szenario, in dem Unterdrückung, Zensur, Fremdbestimmung in höchstem Maße gerechtfertigt erscheinen. Schroeder weist darauf hin, dass in Platons totalitärem Philosophenstaat der Ursprung für viele utopische Entwürfe zu sehen ist, der über Jahrtausende regelmäßig das europäische Denken - sei es christlich, rechts-oder linksradikal - bis heute befruchtet hat. Jüngstes Beispiel ist die amerikanische Politik, deren geistige Grundlage auf den platonisch beeinflussten, aus Deutschland stammenden Professor Leo Strauss zurückgeht.
( Literatur: Julius Kauffmann: Einführung in die Philosophie von Leo Strauss)
Auch Philosophen leben mitunter gefährlich
Psychologisch gesehen ist der Wunsch Platons nach ewiger Ruhe höchst verständlich. Er selbst lebte in einer überaus dramatischen Zeit: Der Pelopponesische Krieg zwischen Athen und Sparta tobte über 20 Jahre und war von der Wirkung her durchaus mit dem 30jährigen Krieg in Europa zu vergleichen.
Obwohl aus reichem Hause stammend, blieb Platon auch nach dem schmerzlichen Verlust seines Lehrers Sokrates von Wechselfällen des Schicksals nicht verschont. Der
Besuch des sizilianischen Tyrannen Dionysios hatte für Platon alles andere als dionysische Folgen. Der Beginn dieser herben Geschichte hat übrigens zu tun mit dem naiven Glauben an das "Gute und Wahre", der sich als gefährliche Illusion herausstellen kann. Dion, der Neffe des Tyrannen von Syrakus, war ein träumerischer Idealist und glühender Bewunderer Platons. Dion meinte nun, seinen tyrannischen Onkel Dionysios zum Guten bekehren zu können und nahm daher Platon als "Missionar" mit nach Syrakus. Sollte es nicht möglich sein, dass der geistig und rhetorisch so begabte Platon, obendrein von nobler, das heißt akzeptabler Herkunft, seinen machtgierigen Onkel in ein philosophiebegeistertes Lämmchen verwandeln könne, der dann Syrakus als "aufgeklärter Tyrann" regieren würde?
Es kam, wie es kommen musste. Der asketische Platon fühlte sich von der sizilianischen Völlerei angeekelt und nach einem sicher sehr kurzen Gespräch zwischen Platon und Dionysios über die Tugend und darüber, dass der Gast aus Athen keinen einzigen tugendhaften Mann gefunden hätte, ließ der Tyrann Platon kurzerhand fesseln und als Sklaven in Ägina verkaufen. Platon hatte großes Glück. Ein Schüler erkannte ihn auf dem Sklavenmarkt, kaufte ihn sofort frei und schenkte ihm obendrein ein Stück Land, auf dem Platon seine später weithin berühmte Schule errichten konnte.
Fortsetzung folgt im April 2004, wenn die Vorlesungsreihe wieder startet!