Wer waren eigentlich die Sophisten?

Wer erinnert sich noch an seinen Schulunterricht, in dem die Philosophie der Sophisten meist als relativistisch, anarchisch, gesellschaftsfeindlich und als spitzfindige bis inhaltsleere Rhetorik um ihrer selbst willen dargestellt wurde?

Wer eine solch geartete Erinnerung noch im Hinterstübchen hat, kann getrost davon Abstand nehmen - ist doch diese Auffassung nichts anderes als Ausdruck platonischer Aversion gegen eine Philosophie, die sich leider weltgeschichtlich gesehen nicht hatte durchsetzen können.

Wer den ersten Teil schon gelesen hat, kann hier über eine Sprungmarke direkt zur Fortsetzung gelangen, verfasst am 15.12.03

Unmittelbar darüber erfahren können diejenigen, die in München wohnen und jeden Dienstag zwischen 17.15 und 18.45 Zeit haben, in der Ludwig-Maximilians-Universität im Raum 132 der spannenden Vorlesungsreihe von Dr. Claus Schroeder zu folgen.

Das Wahre und Gute als Quelle allen Unheils

Schroeder sei Dank gibt es an der Universität (kostenlos dazu!) auch Hochinteressantes zu erfahren. Im Folgenden gebe ich einen kleinen Auszug des bisher Gehörten:

Seit Jahrtausenden sind wir - ohne es meist zu merken - im Banne Platons, der im Wahren und Guten absolute Werte sieht, denen es nachzustreben gilt. Klingt erst mal toll. Denn wer will nicht das Gute und Wahre? Wer die unheilgeschwängerte menschliche Geschichte betrachtet, Philosophien und Zeitalter vergleicht, merkt bald, dass jede Ära und innerhalb jeder Ära verschiedene Personen und Ideologien etwas anderes mit dem Guten und Wahren gleich setzen. Und damit beginnt jedes Problem; wenn die andere Partei mein Gutes und Wahres nicht anerkennt, muss ich entweder andere bekehren, mich still verhalten, Leine ziehen oder meinem Widersacher eins überbraten. Für letztere "Lösung" finden sich bis in heutiger Zeit glühende Anhänger.

Kurzer historischer Abriss des Guten und Wahren vom Christentum bis in die Neuzeit

Für die Christen war das Gute identisch mit dem christlichen Gott: Hängen "Gut" und Gott nicht etymologisch zusammen? Die im Mittelalter dominierenden Realisten setzten die Philosophie Platons unter christlichem Vorzeichen fort und glaubten an die reale Existenz der platonischen Ideen im jenseitigen Bereich. Natürlich könne Gott nicht unmittelbar von jedem erkannt werden, aber durch die Offenbarung Gottes einzelnen auserwählten Menschen gegenüber wird er in heiligen Schriften und Visionen erkennbar. Mutter Kirche entscheidet dann eben, wessen Visionen wirklich göttlich und wessen Verlautbarungen teuflischen Ursprungs sind. Die Säkularisierung und Aufklärung verschob den Ort des Guten weg von Gott hin zur Vernunft (Kant), zur menschlichen Natur (Rousseau) oder zur Geschichte (Hegel und Marx). Die Empiristen unter den Engländern und Amerikanern wähnten im 19. Jahrhundert das Gute mit dem Nützlichen identisch: Die unsichtbare Hand des Marktes ist nach Adam Smith der Motor, der den individuellen Nutzen zum Nutzen aller macht. In letzter Konsequenz wird dann das Gute am Erfolg festgemacht, eine Auffassung, die die Amerikaner nachdrücklich vertreten.

Es gibt nichts Neues unter der Sonne

Was hier als "Fortschritt" der Neuzeit erscheint, ist in Wirklichkeit ein alter Hut. Denn schon im Griechenland des fünften vorchristlichen Jahrhunderts hatte eine massive Säkularisierung eingesetzt, die den Ort des Guten von den Göttern weg hin zur menschlichen Vernunft transportierte. Und diese Leistung ist vornehmlich den Sophisten zuzuschreiben. Sie bestritten die Existenz eines absolut Guten und Wahren - wo soll es sich denn aufhalten? Mit sinnlicher, unmittelbarer Wahrnehmung sei es jedenfalls nicht auszumachen.

Kritisch wiesen sie darauf hin, dass das menschliche Denken und Handeln relativ sei: Was für den einen gut ist, muss für den anderen noch lange nicht gut sein!

Und zu guter Letzt: War denn das Gute und Wahre in Wirklichkeit nichts anderes als ein hübsches Deckmäntelchen, mit dem man beliebige und relative Herrschafts-und Machtansprüche festigen und verherrlichen konnte?

Geistige Strömungen im alten Griechenland des 5. vorchristlichen Jahrhunderts

Reizvoll an dieser Epoche war, dass das geistige Wettrennen zwischen den philosophischen Richtungen im antiken Griechenland noch nicht entschieden war. Drei Hauptrichtungen standen damals zur Debatte.
Die Platoniker
Die Sophisten
und die Materialisten
Die Platoniker und ihr faschistoides Denken
Platon schätzte die sinnliche Erfahrung gering. Sein Höhlengleichnis bringt plastisch zum Ausdruck, dass wir mit einer unvollkommenen, dunklen Existenz vorlieb nehmen müssen, in der wir nur eine schattenhafte Ahnung des Wahren und Guten erhalten. Diese Ahnung kann nur von sogenannten Weisen vermittelt werden, die kraft dieser Weisheit die Berechtigung bekommen, über die anderen zu herrschen. Plato geht sogar so weit, dass die Weisen sich außerhalb des Gesetzes stellen und der unmündigen Masse Lügen auftischen dürfen.

Unter diesem Blickwinkel betrachtet verwundert es nicht, dass sich die Platoniker bis heute durchsetzen konnten. Es legitimiert nicht nur Herrschaft, sondern glorifiziert sie sogar als Vermittler des Wahren und Guten. Das Ego wird endlos aufpoliert und HeldInnen jeglicher Sparte werden in ihrem Wahn bestätigt, strahlende Kreuzritter des Guten zu sein.
Die Sophisten
Wie anders dagegen die Sophisten! Ihr Ansatz macht verständlich, warum Platon sie so vehement abgelehnt hat, wurde doch von ihnen erst einmal alles in Frage gestellt. Negiere ich den Ort des Guten, mache ich jede einzelne Person für ihr "Gutes" verantwortlich. Jedem Einzelnen bleibt es selbst überlassen, wie er handelt, welche Antwort er auf die Welt gibt. Das eigene selbstverantwortliche Handeln setzt Maßstäbe, nichts anderes. Tue ich etwas, dann manifestiere ich damit, dass ich das für gut befinde. Schluss-aus-Nikolaus. Das klingt erst einmal einfach, pragmatisch, glanzlos und nüchtern. Was, wir sind keine strahlenden Kreuzritter, die im Auftrag einer höheren Macht agieren? Ganz bestimmt nicht, würden die Sophisten antworten. Es sind im Leben letztlich nur drei praktische Fragen zu beantworten:

Wie komme ich mit mir selbst, mit anderen und mit der Natur zurecht? An diesen drei Fragen hingen die Sophisten ihre Lehre und ihre Erziehung auf, aus denen selbstverantwortliche und selbstkritische Menschen hervorgehen sollten. Prominente Vertreter der Sophisten waren Gorgias und Protagoras.
Die Materialisten
In der Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts waren die Materialisten die größte Fraktion. Unter ihnen war Demokrit von Abdera, der die Atomtheorie entwickelte. Ihr Anliegen war - wie das der Wissenschaftler heute -,unabhängig von Normen und Geboten die materielle Natur zu erforschen. Es ging ihnen um eine klare Trennung zwischen Wissenschaft (=deskriptiv) und Ethik (=präskriptiv). Die platonische Forderung, dass Forschung unter die Ethik zu stellen sei, machten die Materialisten zu den vehementesten Gegnern Platons. Platon selbst wählte eine andere Methode, diese prominenten Gegner zu beseitigen: Er schwieg sie in seinen Schriften einfach tot.
Platon und die Sophisten
Im Gegensatz zu den Materialisten konnte Platon die Sophisten nicht totschweigen, machten doch diese zu viel von sich reden. Hier wählte er andere Methoden: Verleumdung einzelner Vertreter der Sophisten und Verfälschung von Tatsachen. Er polemisierte gegen Protagoras, indem er ihn als Gotteslästerer darstellte, und machte den prominentesten sophistischen Vertreter, Sokrates, in seinen Schriften fälschlicherweise zum Gegner der Sophisten. Das Erschreckende: Bis heute haben wir mit den Folgen dieser falschen platonischen Darstellung zu tun. Platon ist immer noch der nicht zu stürzende Gigant am Philosophenhimmel. Schröder zitierte den Satz, dass im Grunde die gesamte Philosophie des Abendlandes als Fußnote zu Platon und Aristoteles gesehen werden kann. Der Gesellschaftsphilosoph Karl Popper schrieb als einer der Wenigen, die die faschistoide Tendenz bei Plato offen kritisierten, eine Abhandlung, deren englischer Originaltitel die Kritik anklingen lässt: "The Spell of Plato", Im Banne Platos - in der deutschen Übersetzung fälschlicherweise platonfreundlich mit "Der Zauber Platons" wiedergegeben.

Die Sophisten und ihr politischer Hintergrund

Telemachos, der Athener Fischer, trat aus seinem Haus und bemerkte, wie sein Nachbar Proteus der Schuster denselben Weg einschlug, Richtung Ecclesia, die Athener Volksversammlung, die vier mal pro Monat unter freiem Himmel tagte. "Na, Proteus, hatīs dich auch erwischt? Ein Jahr lang müssen wir jetzt Richter sein. Mal sehen, wen wir wieder zum Tode verurteilen werden....aber ein Jahr lang nicht fischen oder schustern müssen, ist auch nicht schlecht. Seit Perikles sind die Diäten wenigstens ausreichend ..."

So könnte sich im alten Athen eine typische Szene abgespielt haben, war doch die Athener Demokratie eine der volksorientiertesten Demokratien überhaupt. Wichtige Ämter wurden nicht nur per Wahl über die Volksversammlung vergeben, sondern auch per Los. Im Unterschied zur ersten Kammer, der Volksversammlung, wurden die Mitgleider der zweiten Kammer, des Rats der 500, ausschließlich per Los festgelegt. Jeden x-beliebigen Bürger, unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung oder Ausbildung, konnte es zusätzlich treffen, ein Jahr oder nur einen Tag lang Richter beim Gericht, Zollbeamter, Marktaufseher, Steuereinnehmer oder ...... sein zu müssen. Die Athener bewegte bei der Verwirklichung ihrer demokratischen Prinzipien vor allem eine Sorge: Wie können wir erfolgreich eine Allein- oder Cliquenherrschaft von vornherein unterbinden?

Sophisten wie Protagoras halfen mit, eine Verfassung auszuarbeiten, die der Athener Gesellschaft den Charakter einer "plebiszitären Lottodemokratie" (Schröder) verlieh. Bis auf Frauen und Sklaven waren wirklich alle Athener ab 21 nicht nur wahlberechtigt, sondern auch verpflichtet, sich engagiert an der Gestaltung des Athener Staates zu beteiligen. Im Unterschied zu heute, die wir Demokratie primär als "Recht oder kein Bock auf ...." begreifen, lautete die damalige Devise: Sei dir deiner Pflicht bewusst, dich jederzeit für jedes Amt zu engagieren!
Das Ideal des mündigen Bürgers
Eine Gesellschaft, deren Ideal es ist, durch Überzeugung und nicht durch Gewalt eine Mehrheit herzustellen und damit regierungsfähig zu sein, muss Bürger erziehen, die nicht nur handlungsfähig sind, sondern auch rhetorisch brillant. Denn nur das Wort ist die Waffe, mit der ich zumindest Gegner innerhalb der eigenen Gesellschaft schlagen kann.

Die Sophisten, unter denen jegliche Berufe vertreten waren vom einfachen Handwerker bis zum Anwalt, machten es sich zu ihrer Hauptaufgabe, rhetorisch und charakterlich fitte Mitbürger zu erziehen. Denn nur redegewandte Leute hatten auf der Ecclesia, der Athener Vollversammlung, überhaupt eine Chance, gehört und damit gewählt zu werden.

Natürlich gab es unter den Sophisten auch Vertreter, die der Kategorie der eitlen Blender zuzuordnen ist: geschliffene Rhetorik ohne entsprechenden Charakter. Die Mehrzahl der Sophisten jedoch bestand darauf, dass außer rhetorischem Geschick vor allem Selbstkritik, Charakterstärke, Treue zu sich selbst unabhängig von Gewinn-und Profitstreben Voraussetzungen dafür sind, das sophistische und griechische Ideal der "arete" zu erreichen, ein Ideal, das die Römer mit "virtus" übersetzten und mit dem deutschen moralinsauren Wort "Tugend" nur unzureichend wiederzugeben ist.

Fortsetzung folgt